I. Ausgangslage

 

1. Grundrechte und verfassungsgesetzlich gewährleistete  Rechte

 

In der staatsrechtlichen Terminologie werden Grundrechte und verfassungsgesetzlich gewährleistete Rechte vielfach gleichgesetzt. In der Reformdiskussion sollte zwischen Grundrechten als elementaren Gewährleistungen zugunsten des Einzelnen oder gesellschaftlicher Gruppen einerseits und verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten andererseits unterschieden werden. Die Unterscheidung ist nicht ausschließend.

 

Es gibt grundrechtliche Gewährleistungen außerhalb des formellen Verfassungsrechts (Beispiele: UN-Pakte über bürgerliche und politische Rechte und über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte; Europäische Sozialcharta, Kinderrechtskonvention) und es gibt verfassungsgesetzlich gewährleistete Rechte außerhalb der Sphäre der Grundrechte (Beispiele: Rechte aus Verfassungsbestimmungen im Bezügerecht).

 

Die Reformarbeit im Grundrechtsausschuss sollte sich auf die Grundrechte beziehen. Verfassungsgesetzlich gewährleistete Rechte außerhalb der Grundrechte sollten hauptsächlich der Aufmerksamkeit des legistischen Ausschusses (2) überlassen werden.

 

In systematischer Nachbarschaft zu den Grundrechten stehen institutionelle Garantien (zB Wehrsystem), Staatsziel- und –aufgabenbestimmungen (zB Gewährleistung der Gleichbehandlung von behinderten und nichtbehinderten Menschen; Rundfunk als „öffentliche Aufgabe“). Hier besteht Informations- und Koordinierungsbedarf im Verhältnis zum Ausschuss betreffend Staatsziele und Staatsaufgaben (1).

 

Im Sinne eines entwickelten Grundrechtsverständnisses können – der Terminologie und Systematik der EU-Grundrechtscharta entsprechend – folgende Unterscheidungen getroffen werden:

 

        Grundlagen (Würde des Menschen, Recht auf Leben, Recht auf Unversehrtheit, Verbot der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung, Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit)

 

        Freiheiten („klassische Grundrechte“, wie persönliche Freiheit, Privatsphäre, Meinungsfreiheit, Eigentumsfreiheit, Erwerbsfreiheit etc)

 

        Gleichheit (Diskriminierungsverbote, Schutz und Förderung gesellschaftlicher Gruppen – Volksgruppen, Minderheiten, Benachteiligte)

 

        Solidarität (Garantiepflichten und Gewährleistungsansprüche, sog „soziale Grundrechte“)

 

        Bürgerrechte (Wahlrecht, Recht auf eine gute Verwaltung, Informationsrechte, Schutz durch Institutionen)

 

        Justizielle Rechte (Rechte in Zivil- und Strafsachen)

 

 

2. Grundrechtstexte und Grundrechtsquellen

 

Grundrechtliche Gewährleistungen auf Verfassungsstufe finden sich verstreut in zahlreichen Texten und Quellen, aus verschiedenen Abschnitten der Rechtsentwicklung stammend, innerhalb und außerhalb des B-VG, teils staatlicher, teils völkerrechtlicher Herkunft. Zwei relativ geschlossene Kataloge enthalten das StGG 1867 und die EMRK mit ihren Zusatzprotokollen. Ansonsten gibt es eine Fülle sporadischer, größerer und kleinerer Texte und Quellen, manche davon als Reste angefangener Kodifikationen (zB Schutz der persönlichen Freiheit).

 

Dazu kommen Grundrechtstexte und -quellen völkerrechtlicher Herkunft, die nicht im Verfassungsrang transformiert wurden und/oder nicht unmittelbar anwendbar sind.

 

Die MRK und ihre Zusatzprotokolle schaffen insgesamt einen weitgehend kompletten Katalog der „klassischen“ Menschenrechte und Grundfreiheiten. Gäbe es nur die MRK und ihre Zusatzprotokolle, so bestünde bei diesen Rechten und Freiheiten nur wenig Ergänzungsbedarf an zusätzlichen verfassungsgesetzlichen Garantien.

 

Die MRK und ihre Zusatzprotokolle haben überdies wegen ihrer Einbindung in die europäische Grundrechtsordnung und wegen der permanenten richterrechtlichen Fortentwicklung sowohl durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als auch durch den österreichischen VfGH unter allen grundrechtlichen Rechtsquellen ein großes Gewicht an Legitimität und  Implementierung.

 

 

II. Reformperspektiven

 

Es erscheint nicht sinnvoll, den Versuch zu unternehmen, den vorhandenen Grundrechtsbestand textlich zu kompilieren und/oder in einem weiteren Katalog neu zu kodifizieren.

 

Andererseits sollten die Grundrechte an prominenter Stelle – allenfalls am Beginn – einer neuen geschlossenen Verfassungsurkunde verankert sein (wenn auch nicht unbedingt als detailliert ausgearbeiteter Grundrechtskatalog).

 

Zu beachten ist auch die Entwicklung der Grundrechte im Bereich der EU. Das Gemeinschaftsrecht kennt eine Reihe von Gemeinschaftsgrundrechten auf der Grundlage des Art 6 EUV, der Rechtsprechung des EuGH und der (noch unverbindlichen) Grundrechtscharta. Der Verfassungsvorschlag des Konvents sieht eine Konstitutionalisierung der Grundrechtscharta in Verbindung mit einem erweiterten Zugang zum EuGH vor.

 

Der alte, zum Teil entwicklungshemmende Gegensatz von „liberalen“ und „sozialen“ Grundrechten verliert an Bedeutung. Das hängt wesentlich damit zusammen, dass Freiheitsrechte heute durchwegs auch als staatliche Schutz- und Garantiepflichten verstanden werden.

 

Ebenfalls im Wandel bzw im Abbau begriffen ist die traditionelle Fixierung der Grundrechte auf den obrigkeitlich auftretenden Staat, im Besonderen in Form der hoheitlich eingreifenden Verwaltung. Im Vordringen begriffen ist die Vorstellung von einer allgemeinen Grundrechtspflichtigkeit jeder Form von „öffentlicher Gewalt“, auch wenn sie durch formell private Institutionen und/oder mit den Mitteln des Privatrechts wahrgenommen wird. Privatrechtliche Garantien, wie der allgemeine Persönlichkeitsschutz, gute-Sitten-Klauseln, Kontrahierungspflichten, Diskriminierungs- und Missbrauchsverbote, gelten in zunehmendem Maße als Transportmittel grundrechtlicher Wertvorstellungen.

 

 

III. Strategie

 

Im Ausschuss sollte zunächst eine Sichtung der vorhandenen Bestände an grundrechtlichen Texten und Rechtsquellen vorgenommen werden. Die Bestandsaufnahme sollte von einem erweiterten Grundrechtsverständnis ausgehen, welches auch Quellen außerhalb des formellen Verfassungsrechts (insbesondere solche völkerrechtlicher Herkunft) einbezieht.

 

Auf der Grundlage dieser Bestandsaufnahme könnte eine Systematisierung der Texte und Quellen vorgenommen werden, die dem – derzeit am weitesten entwickelten – System (nicht auch den Einzelheiten!) der EU-Grundrechtscharta folgt.

 

Eine Kodifikation herkömmlicher Art, bei der auch Ergebnisse der Rechtsprechung in Rechtstexte transformiert werden, erscheint nicht sinnvoll. Die Dynamik der Rechtsprechung und Praxis, die sich weit über den Wortlaut der Grundrechtsgewährleistungen hinaus entwickelt, sollte nicht durch kodifikatorische „Momentaufnahmen“ beeinträchtigt werden, sondern für die weitere Zukunft erhalten bleiben.

 

Ein neuer Grundrechtskatalog könnte in einer kombinierten Strategie von inhaltlichen Deklarationen, Erwähnungen und Verweisungen geschaffen werden. Es geht dabei nicht darum, einen Katalog von neu zu beschließenden Grundrechtstexten herzustellen, sondern im Wesentlichen um eine Kompilation, Arrondierung und einen Weiterbau des vorhandenen Bestandes. Mehrfache Garantien sollten abgebaut werden.

 

Dem System der Grundrechtscharta der EU folgend können bestehende Gewährleistungen zugeordnet und neue Garantien geschaffen und eingebaut werden. Letzteres wird von der Konsensfindung im Ausschuss abhängen.

 

Materielle Grundrechtsbestände sollten im neuen System Platz finden, auch wenn sie bisher nicht Teil des formellen Verfassungsrechts und/oder nicht unmittelbar anwendbar gewesen sind (zB Europäische Sozialcharta, UN-Pakte, KRK). Manche Gewährleistungen, namentlich im Bereich der „Solidarität“, werden möglicherweise nicht auf dem Weg des Art 144 B-VG „einklagbar“ sein, sondern der Um- und Durchsetzung im Wege über die ordentlichen Gerichte (einschließlich Arbeits- und Sozialgerichte) anzuvertrauen sein. Auch solche Garantien sollten in den Grundrechtskatalog Aufnahme finden. Über die Technik, allenfalls in Form von Verweisungen und/oder institutionellen Garantien wird im Ausschuss zu sprechen sein.

 

In diesem Zusammenhang werden auch strukturelle Fragen des Rechtsschutzes zu erörtern und allenfalls neue Instrumentarien (zB Verbandsklagen) zu suchen sein.

 

Der Ausschuss sollte sich auch mit bestehenden Einrichtungen des kommissarischen Rechtsschutzes durch Rechtsschutzbeauftragte, Verfahrensanwälte uä befassen.